Wie es sich gehörte

Leonore dachte an ihre verflossene Jugend zurück: Sie war schön, sie war jung, sie war klug. Sie hätte an eine Universität gehen können, als erstes Mädchen aus ihrem Dorf, in einer fremden Stadt ihr eigenes Leben leben.
Aber sie war Hans verfallen, aus Liebe wurde Leidenschaft, aus Leidenschaft Schwangerschaft. Es folgte die Ehe, wie es sich gehörte.
Drei weitere Kinder, vierundzwanzig endlose Jahre an der Seite eines notorischen Säufers und Seitenspringers. Sie sah immer weg, erzog die Kinder, schwieg, bis er ihre Schwester knallte. Nun buk sie ihm einen Kuchen, mit viel Liebe – und Arsen. Wie es sich gehörte.

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Pflastersteine II

Ich konnte noch nie meine Augen von dir lassen – nicht, seit du damals, in meinem ersten Semester, mit diesem süßen Lächeln den Seminarraum und damit meine Welt betreten hast. Der Zufall wollte es so, dass der einzige freie Platz in dem überfüllten Kurs der neben mir war. Wie alle Erstsemester, so kannten auch wir niemanden und als der Professor die Arbeitsgruppen einteilte, war es nur natürlich, dass wir – als Bekannte seit fünf Minuten – gemeinsam ein Team bildeten und uns eines der weniger langweiligen Referatsthemen sicherten.

Es war der Beginn einer langen, fruchtbaren Freundschaft. Semester um Semester stimmten wir unsere Stundenpläne ab, hielten uns gegenseitig Plätze frei und halfen uns durch Tests und Prüfungen. Es hätte so viele Gelegenheiten gegeben… als wir uns im Wintersemester die Nächte mit gemeinsamer Projektarbeit bei dir um die Ohren schlugen, als wir uns gegenseitig bei mir Lernstoff abprüften oder – mir schwinden noch immer die Sinne – als du beim letzten Volleyball-Turnier der Hochschülerschaft oben ohne angetreten bist… Aber ich habe mich nie getraut.

Nun stehe ich vor deiner Wohnung, um dich zu einem Vortrag abzuholen. Ein Vortrag, der mich eigentlich nicht interessiert, über das Liebesleben der Pflastersteine… und ich bin zu früh. Viel zu früh, wie ein Blick auf meine Armbanduhr mir bestätigt. Ich hole tief Luft und klingle. Aber du hörst mich nicht. Die Tür bleibt verschlossen, kein lächelnder Adonis öffnet sie mir. Ich warte, klingle wieder. Nichts. Schließlich durchwühle ich meine Tasche, auf der Suche nach dem Zweitschlüssel, an dem dieser süße kleine Teddy hängt, den du einst bei einer Schießbude für mich gewonnen hast.

Als ich eintrete, höre ich von fern das Plätschern von Wasser. Mein Herz beginnt zu klopfen. Ich hänge meine Jacke an dein Garderobenbrett, das irgendein verschrumpelter grüner Gnom ziert, und ziehe atemlos meine Schuhe aus, ehe ich auf Zehenspitzen in das Innere deiner Wohnung tripple, hin zur Quelle des Plätscherns. Dampf kommt mir entgegen. Sorglos hast du die Türe zu deinem Badezimmer nicht geschlossen – wozu auch? Du wohnst allein und ich sollte eigentlich noch gar nicht hier sein. Hitze steigt mir in die Wangen. Würde heute der Tag sein? Der Tag, an dem ich endlich über meinen Schatten springe?

Ich bleibe kurz stehen, ordne meine Haare, richte meinen Ausschnitt – wieso trage ich ausgerechnet heute nicht mein rotes Top? Ich atme tief ein, wappne mich und gebe mir einen Ruck. Vorsichtig stoße ich die Tür weiter auf, spähe in das Innere deines Badezimmers. Gerade stellst du das Wasser ab, steigst aus der Dusche, bedeckt mit tausend kleinen Wassertropfen, mit denen ich gerne tauschen würde… Mein Blick fällt auf dein dichtes schwarzes Haar, deine muskulösen Arme, deinen durchtrainierten Waschbrettbauch, dein… da wird mir klar, dass ich doch nicht mehr will.