„Bis später, Schatz.“ Jochen gab ihr einen Kuss.
„Bis später.“
Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Laura atmete tief durch und verkniff sich einen kleinen Freudenschrei. So sehr sie Jochen liebte – es hatte doch gravierende Vorteile, allein zu wohnen.
Er würde sicherlich eine gute Stunde benötigen, um in die Stadt zu fahren, Einkäufe zu erledigen und wieder nach Hause zu fahren. Vielleicht sogar länger.
Mindestens eine Stunde – und die gehörte nur ihr. Nach all den Wochen voller Trubel hatte sie sich etwas Erholung redlich verdient. Weihnachtseinkäufe, den Weihnachtstress auf der Arbeit schaukeln, sich an eine neue Schwiegermutter gewöhnen, mit einem pubertierenden Nachbarsjungen eine Fehde auszutragen und sich zu allem Überfluss noch der Neugierde seiner Mutter erwehren – all das war kein Kinderspiel, sondern zehrte so langsam an ihren Nerven. Zeit für ein Entspannungsbad.
Flink sauste sie die Treppe hinauf ins Schlafzimmer, fischte sich frische Unterwäsche aus dem Schrank und blieb kurz vor dem Bücherregal stehen – Jochen hatte gemeint, sie müsse unbedingt das Buch mit diesem Jungen lesen, der einen weißen Stein suchte… da ihre eigenen Bücher aus Platzmangel alle in einem Pappkarton auf dem Speicher gelandet waren, blieb ihr wohl nichts anderes übrig.
Sie schnappte sich schnell ihren iPod von der Ladestation und flitzte ins Bad. Sie warf ihre Kleider achtlos auf den bereits aufgetürmten Wäschestapel auf der Wäschetrommel, stöpselte sich den iPod ein und versuchte angestrengt, sich für eines ihrer tausend Badesalze zu entscheiden. Schließlich entschied sie sich für Erdbeere – das mochte zwar unweihnachtlich sein, aber auch von Weihnachten musste mal etwas Pause sein.
Voller Vorfreude wandte sie sich der Badewanne zu. Die Flasche mit dem Badesalz fiel klirrend zu Boden und zerstob in tausend Splitter.
„Hallo Laura.“ Dorothea war bis zum Hals im Badeschaum abgetaucht. „Ich fürchte, für zwei ist hier kein Platz.“
Archiv für den Monat Dezember 2014
Adventskalender 2014: Türchen 22
„Laaaast Christmas…“, setzte das Radio an, doch Laura machte ihm sofort den Garaus. Schon seit dem 15. November hatte die Dauerbeschallung mit diesem Lied begonnen, nirgends war man davor sicher, überall wurde man gewhamt. Nicht nur im Radio und in Musiksendungen, nein, auch auf Webseiten, die es für unerlässlich hielten, automatisch startende Music Player zu implementieren, und letztens sogar in einem Online-Adventskalender voller Kurzgeschichten. Ganze dreimal hatte der Autor auf das Lied angespielt, als fiele ihm nichts besseres ein – aber nun war genug. Nicht mit ihr!
Demonstrativ drehte sie dem Radio den Rücken zu und vertiefte sich in die Illustrierte, die sie auf dem Heimweg in einem Kiosk mitgehen ließ. Udo Jürgens war auf dem Cover abgebildet gewesen, darunter groß die Schlagzeile: „Schlagerstar gestern verstorben!“ Sie hatte inne gehalten, es kaum glauben können. Der Held des griechischen Weins, tot, einfach so …
Sie hatte es dann aber doch nicht über sich gebracht, den Artikel zu lesen und sich auf die anderen Nachrichten gestürzt: Meldungen über adelige Schwangere, wer wem was schenkte, Benefizkonzerte und eine Verschwörungstheorie darüber, was das Sexleben der Obamas mit der Annäherung an Kuba zu tun hatte – offenbar war Raúl Castro ein begnadeter Tänzer …
Gedankenverloren griff sie nach ihrer Teetasse, nippte daran – und verbrannte sich die Lippen. „Au, heiß!“ Hustend und prustend setzte Laura die Tasse wieder und warf ihr einen zornigen Blick zu. Wie konnte der nur noch so heiß sein?
Im selben Moment polterte es im Hausflur, es klirrte und krachte, gefolgt von Flüchen in mehreren Sprachen, die Laura nicht kannte.
Sekunden später steckte ein zerzauster Jochen den Kopf ins Wohnzimmer, fluchte weiter und zerrte mit brachialster Gewalt einen für die Tür viel zu großen Tannenbaum ins Zimmer. Nadeln flogen in alle Richtungen. Laura duckte sich unweigerlich hinter ihre Zeitschrift.
Schließlich schaffte Jochen es mit hochrotem Kopf, den Baum unter dem Türsturz durchzuziehen und ihn fachmännisch in eine Ecke des Zimmers zu stellen.
Laura sah ihm bei seinem Treiben eine Weile zu, ehe sie geräuschvoll umblätterte und fragte: „Kann ich dir irgendwie helfen?“
Jochen atmete tief aus, klatschte ein, zwei Mal gedankenverloren in die Hände. „Ja. Der Baum hat ziemlich viele Nadeln verloren, hier und im Flur…“ Er verzog gequält das Gesicht. „Außerdem fürchte ich, dass die Blumen mir den Sturz aus der Vase ziemlich übelnehmen. Von der Vase ganz zu schweigen…“
Laura seufzte und erhob sich. „Ist gut, ich hole den Staubsauger und sauge schnell durch.“
„Danke.“ Jochen strahlte und machte sich über ein paar Pappkartonkisten her. „Ich fange derweil schon mit dem Schmücken an.“
Ziemlich viele Nadeln verloren – die Untertreibung des Jahrhunderts. Im Flur sah es aus wie nach einer Schlacht der Weihnachtselfen. Nadeln über Nadeln, soweit das Auge blickte. Und die Blumen waren nicht mehr zu retten…
Laura klaubte die Scherben zusammen, warf die Blumen in den Biomüll und saugte schnell durch. Dann hängte sie das Bild einer fetten Dame, das verrutscht war, wieder gerade. Dasselbe mit dem quirlig aussehenden Ritter daneben. Ein Wunder, dass Jochen bei seinem Kampf mit dem Baum nicht noch
mehr demoliert hatte…
Als sie fertig war, schleppte sie den Sauger ins Wohnzimmer.
Jochen hatte den Radio wieder eingeschaltet und hängte gerade eine Weihnachtskugel auf, die ein rotbekappter Klempner in Latzhosen zierte. „Zur Krippe her kommet, in Bethlehems Stall…“, tönte es aus dem Radio.
Laura seufzte ergeben. Ihr Kinderlein kommet – wann war dieses Weihnachtslied je so passend?
Adventskalender 2014: Türchen 21
Es dauerte eine Ewigkeit, bis Jochen aus dem Bad kam. Kaum war Elisa abgewimmelt, warf Laura sich wieder aufs Bett und las den neuesten Klatsch auf Facebook.
Ihre Bürokollegin Wendy hatte soeben gepostet, dass sie noch immer keine Weihnachtsgeschenke habe, und ein ganzer Schwarm an Freunden und Freunden von Freunden war über das Statusupdate hergefallen wie Großmütter über Strickbedarf im Sommerschlussverkauf. Manche feixten und gaben damit an, ihre Geschenke schon im Sommer vorgekauft zu haben, andere machten Last-Minute-Vorschläge, einige fragten besorgt nach, ob Wendy denn deren Geschenke wenigstens schon habe und zwei oder drei obligatorische „Weihnachten ist Konsumterror!“ waren auch dabei.
Arme Wendy… Laura ließ das Handy sinken und sah aus dem Fenster.
Das Haus der Müllers starrte aus dunklen Fensterhöhlen zurück. Gott sei Dank war Elisa wieder abgedampft – die Frau mochte es ja gut meinen, aber Gott, war die nervig… kein Wunder, dass sie einen verkorksten Spannersohn hatte…
Das Plätschern der Dusche verklang, die Duschtür ächzte in ihrem Scharnier und einen Moment später kam Jochen aus dem Bad, ein Handtuch um die Hüften geschlungen und die Haare nass und zerstrubbelt.
„Du liegst immer noch im Bett?“, fragte er und suchte sich was zum Anziehen aus dem Schrank.
„Mhm.“ Lauras Blick glitt über seinen nackten Oberkörper. Am liebsten hätte sie ihn gleich wieder zu sich gezogen…
„Die Dusche ist jetzt frei“, bemerkte er, als sie sich nicht rührte.
„Was?“ Sie sah ihn verdutzt an, dann schüttelte sie kurz den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. „Ach ja. Ich beeil mich.“
Träge schleppte sie sich ins Bad und schüttelte ungläubig den Kopf, als sie sah, dass Jochen nicht einmal die Jalousie heruntergelassen hatte. Wo doch die Häuser einander so nahestanden, dass man sich gegenseitig hätte zuwinken können.
Laura griff nach der kleinen Schnur, um sie herunterzulassen, und hielt inne. Sollte etwa…?
Wachsam spähte sie hinaus, kontrollierte Fenster um Fenster des Nachbarhauses. Blumentöpfe, kitschige Weihnachts-Fensterdeko, die Silhouette eines alten Radios, ein Renntierschlitten und Bingo, die Umrisse des Jungen, der aus einem dunklen Fenster herüberspähte.
Das hätte ich mir denken können. Was Elisa wohl dazu sagen würde? Wobei, wieso sie nicht selbst fragen?
Noch immer hielt sie ihr Handy in der Hand. Laura nestelte betont ungeschickt am Gürtel ihres Bademantels herum, wandte dem Fenster den Rücken zu, wählte Elisas Nummer und aktivierte die Freisprechanlage.
Nach nur zweimaligem Klingeln ging Elisa pflichtbewusst ans Telefon. „Bei Müllers.“
„Hallo Elisa, ich bin’s, Laura. Entschuldigen Sie die Störung…“
„Hallo Laura. Sie stören doch nicht.“
„Ich wollte nur sagen, dass in einem Ihrer Fenster im oberen Stock– wobei, ich kann mich auch täuschen. Aber ich könnte schwören, dass da ein Fenster seit gestern Abend angekippt ist. Wissen Sie, eine Freundin von mir, Wendy, sie arbeitet mit mir zusammen, eine Bürokollegin also, wissen Sie, Wendy hat, das heißt, hatte einst einen Kater, Tommy hieß er. Eines Tages ist Tommy in so einem gekippten Fenster hängen geblieben und erstickt.“ Laura legte das Handy betont beiläufig auf den Waschbeckenrand und sah zum Fenster hinaus. Er war noch da.
„Das arme Tier! Aber…“
„Und da Ihr Fenster schon seit vorgestern offen ist, das zweite von links im oberen Stockwerk, da dachte ich mir, Sie haben es vielleicht vergessen. Und das ist ja gefährlich, weil Sie haben doch auch eine Katze… nicht, dass etwas passiert.“ Langsam zog sie den Bademantelgürtel auf.
„Entschuldigen Sie, wir haben gar keine Katze“, wandte Elisa ein.
„Oh.“ Denk nach Laura – eine Spießbürgerin wie sie und keine Katze… „Hm, dann muss ich da wohl etwas durcheinander gebracht haben.“
„Aber wenn das Fenster wirklich schon seit vorgestern offen ist…“
„Ist es.“
„Gut, dass Sie mir das mitteilen. Der Wärmeverlust, gar nicht auszudenken. Wir heizen hier für die Katz… und meine Hyazinthe! Die verträgt doch die Kälte so schlecht…“
„Dann sollten Sie das Fenster besser schnell schließen.“ Laura wandte den Rücken wieder zum Fenster, ließ den Bademantel zu Boden gleiten.
„In der Tat. Das werde ich. Vielen Dank, Laura.“
„Bitte.“
Es tutete im Hörer. Laura warf verstohlen einen Blick aus dem Fenster. Gerade ging bei dem Jungen Licht an – er sprang überrascht auf. Laura schenkte ihm ein Lächeln und ließ die Jalousie herunter.