Adventskalender 2014: Türchen 15

Langsam kam die Straßenbahn zum Stehen. Laura erhob sich schwerfällig von ihrem Platz, schulterte ihre große Umhängetasche und stieg aus. Erleichtert sog sie die frische Luft ein und warf einen kurzen Blick zum Himmel, an dem schon die ersten Sternlein prangten.
Jochen wohnte echt ziemlich weit draußen. Sicher, die Gegend war ruhig und beschaulich, aber mit der Straßenbahn brauchte sie doch fast eine ganze Stunde vom Stadtzentrum bis hierher.
Und dann war sie noch nicht einmal zu Hause, sondern hatte noch einen kleinen Fußmarsch vor sich.
Da lob ich mir doch das Stadtleben… Sie seufzte ergeben und sog noch einmal die frische Luft ein, ehe sie losging. Wenigstens die war hier besser.
Es waren nicht viele Leute aus der Straßenbahn ausgestiegen – wer etwas auf sich hielt, fuhr hier mit dem Auto – und so zerstreute sich die kleine Traube an Fahrgästen schnell.
Laura stapfte anfangs lustlos drauf los, war aber bald froh, sich nach der langen Fahrt ein wenig die Beine zu vertreten. Sie legte einen schnellen, federnden Schritt an den Tag. Unter ihren Füßen raschelten kleine Laubreste, ihr Blick glitt unwillkürlich nach oben zu den dunklen kahlen Silhouetten, die die Straße säumten.
Mitte Dezember und noch kein Schnee. Einerseits praktisch, da so das winterliche Verkehrschaos ausblieb. Aber dennoch fehlte so etwas.
Hinter ihr raschelte es im Laub – Laura fuhr unwillkürlich zusammen. War ihr jemand gefolgt? Ihre Finger umklammerten den Schlüsselbund in der Jackentasche. Mit klopfendem Herzen sah sie sich um.
Direkt hinter ihr stand eine Frau mittleren Alters mit hochgesteckten, braunen Haaren, die Laura verdattert ansah. Sie war in einen dicken Pelzmantel gehüllt, der aber nur mäßig verhüllte, dass die Besitzerin eindeutig ein paar Pfunde zu viel auf die Waage brachte.
„Oh, hallo“, grüßte Laura verlegen.
„Guten Abend“, grüßte die Frau zurück, „verzeihen Sie, wenn ich Sie erschreckt habe. Ich hätte mich nicht so anschleichen sollen. Ich wollte nur aufschließen und ein Pläuschchen halten.“
„Ach so“, machte Laura und nickte auf jene ganz bestimmte Art, auf die nur jemand nicken kann, der keinerlei Ahnung hat, was gerade vorgeht. Sie ging langsam weiter.
„Ja“, bekräftigte die Frau im Plauderton und hielt Schritt, „wo wir doch gemeinsam aus der Straßenbahn gestiegen sind und den gleichen Weg haben. Aber Sie waren mir einfach zu schnell – was Sie für ein Tempo vorlegen! Aber ich kann verstehen, dass Sie es eilig haben. Müssen Sie für ihren Mann noch etwas kochen? Ich habe heute morgen schon vorgekocht…“
„Für meinen Mann?“
„Ja, für Jochen. Ich muss sagen, es ist gut, dass er endlich eine Frau gefunden hat. So ein charmanter Mann wie er, so lange alleine…“
„Wir sind nicht verheiratet.“
„Oh.“ Die Frau sah tatsächlich betroffen aus. „Entschuldigung, wie dumm von mir. Mein Mann sagt immer: ‚Elisa‘, sagt er, ‚du sollst nicht alles glauben, was die Leute erzählen‘, sagt er.“ Sie lachte.
Laura lächelte verlegen.
„Ich wollte eigentlich längst einmal vorbeikommen und Sie in der Nachbarschaft begrüßen. Wo man doch beinahe Tür an Tür lebt. Aber man hat ja so wenig Zeit vor Weihnachten für solche zwischenmenschlichen Dinge… Oh, da sind wir ja schon.“
Tatsächlich standen sie bereits vor Jochens Haus.
„Hier, nehmen Sie meine Karte. Wir müssen uns unbedingt mal auf Kaffee und Kuchen verabreden. Hat mich sehr gefreut.“
„Mich ebenfalls.“
Laura sah Elisa nur kurz hinterher, ehe sie zur Haustür hetzte. Genug Begegnungen für einen Tag…

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