Als er die Vorhänge aufzog, blendete ihn das hereinfallende Licht. Er blinzelte mehrere Sekunden dagegen an, dann wurde seine Sicht wieder klar. Draußen lag kein Schnee, aber es war eine kalte Nacht gewesen. Die Sonne stand bereits am Himmel, aber die Berge belegten das Tal noch mit langen Schatten. Die Wiesen und Bäume waren von weißem Reif überzogen – Tau, der nachts gefroren war.
Er schauerte unwillkürlich, Gänsehaut überzog seinen nackten Oberkörper. Hastig rieb er sich die Arme, um das unangenehme Gefühl zu vertreiben.
„Hier, ich hab Kaffee gekocht.“
Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Dankbar drehte er sich um, nahm eine dampfende Tasse entgegen.
„Zwei Stück Zucker, keine Milch.“ Sie lächelte scheu, als sie auf seine Pedanterie anspielte. Es stand ihr, ebenso wie sein großes T-Shirt und die langen, nackten Beine …
„Perfekt. Danke.“ Er lächelte zurück und umklammerte die Tasse mit beiden Händen.Wohlige Wärme breitete sich schlagartig in seinen Fingern aus.
Sie ließ sich im Schneidersitz auf seinem Bett nieder, pustete ein paar blonde Strähnen aus ihrem Gesicht und sah ihn an.
Er setzte sich ihr gegenüber aufs Fensterbrett, bereute die Entscheidung aber sofort. Die Fensterscheibe war klirrend kalt, das Fenster undicht, es zog furchtbar herein. Trotzdem verharrte er, trank seinen Kaffee.
„Du hast gestern gesagt, du wolltest ein Buch schreiben“, begann sie, „Worum genau sollte es da gehen?“
Er ließ sich Zeit mit der Antwort, ordnete seine Gedanken, strich sich bedeutungsvoll durch den Bart – wie er hoffte. „Um einen alten Wissenschaftler, der sein Leben verpasst hat. Jahrelang hat er Studenten unterrichtet, geforscht und theorisiert. Den Sinn des Lebens gesucht und dabei alles versäumt. Seine Freunde haben geheiratet, Kinder gezeugt, sind weggezogen oder gestorben. Er ist alt und einsam, seines Lebens überdrüssig, geht einen verhängnisvollen Deal ein, da er nichts zu verlieren hat. Aber eines Tages trifft er sie: Jung, fröhlich, ein Ausbund an Energie, Tochter aus erzkatholischem Hause. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Er will sie, aber sie will warten. Er umgarnt sie, verführt sie, schwängert sie. Aber er kriegt kalte Füße, verlässt sie. In ihrer Not weiß sie nicht wohin, bis sie das Kind schließlich … nun ja. Sie wird für ihr Tun verurteilt, verstoßen …“
„… und eingesperrt?“
Er nickte. „Ja. Genau. Und er …“
„… zieht los, sie zu retten, aber sie ist im Gefängnis gestorben?“
„Was … woher weißt du…?“ Er kratzte sich am Kopf. Hatte er es ihr am Vortag schon erzählt?
„Ich kenne die Geschichte bereits.“ Da, in ihrem Blick – war das Bedauern oder Mitleid?
„Wie? Woher?“ Beinahe hätte er den Kaffee verschüttet.
„Goethe. Faust. Der Tragödie erster Teil.“
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Kuschlig in den Kissen
Dösend als der Nachbar bohrt
Adventskalender 2014: Türchen 20
Kaum war Jochen im Bad verschwunden, als auch schon das leise Plätschern der Dusche durch die Wand zu ihr drang. Laura grinste und ließ sich ins Kissen zurück sinken. Schade, dass Jochens Dusche so klein ist… Draußen schien die Sonne und durchs gekippte Fenster hörte sie die Vögel zwitschern und um das Futter am Vogelhaus streiten. Ein herrlicher Samstagmorgen.
In diesem Moment klingelte es an der Tür.
Laura drehte sich mürrisch um und warf einen Blick auf den Wecker. Halb elf… Wer mochte das sein? Würde er später wiederkommen?
Sie beantwortete die Frage für sich selbst mit einem großen Ja und angelte sich ihr Handy vom Nachtisch. Ein wenig surfen, sich die Zeit vertreiben…
Wieder klingelte es an der Tür. Gleich drei Mal in schneller Folge. Der Störenfried war hartnäckig.
Laura erhob sich ärgerlich, zog sich einen Bademantel über und trippelte vorsichtig die Treppe hinunter zur Tür.
„Einen schönen guten Morgen!“, grüßte Elisa mit fröhlichem Grinsen, als Laura ihr die Tür aufzog.
„Morgen…“ Kalte Luft strich sofort über Lauras Zehen und wanderte ihre Waden hinauf. Gänsehaut überzog ihren Körper.
„Oh.“ Als Elisas Blick auf Lauras Bademantel fiel, verfinsterte sich ihre Miene. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.“
Laura setzte soeben zu einer Antwort an, als Elisa fortfuhr: „Entschuldigen Sie vielmals. Es ist eben schon halb elf, da dachte ich, Sie wären sicher längst aufgestanden und würden nicht mehr schlafen. Mein Mann und ich, müssen Sie wissen, sind keine Langschläfer“, fügte sie hinzu, „Man hat ja nur am Wochenende mal wirklich Zeit für sich selbst, das muss man doch ausnutzen!“
Laura wünschte bereits, sie hätte die Tür nicht geöffnet. Sie nickte. „Ja, das muss man natürlich.“
„Eben, Zeit ist doch ein sehr rares Gut! Und wenn man das ganze Wochenende nur in den Federn liegt, dann ist sie ja wirklich vergeudet… Nein, nein, das kommt bei uns Müllers nicht vor. Denken Sie nur, heute früh ist mein Mann schon um sieben Brötchen holen gegangen. Eine halbe Stunde später gab es bereits Frühstück für die ganze Familie. Da machen wir nämlich keine Ausnahmen, wissen Sie. An Mahlzeiten haben alle teilzunehmen, auch die Kinder.“
„Mhm.“
„Ich hole dann auch immer die Zeitung gleich rein. Mein Mann macht sich sofort über das Kreuzworträtsel her und die ganze Familie rätselt mit, wissen Sie.“
Lauras Blick glitt unwillkürlich zur Zeitungsrolle neben der Tür, wo die Samstagszeitung noch ungeniert und unberührt in der Sonne badete.
Elisas Blick schien ihrem gefolgt zu werden. „Oh. Es tut mir echt leid, Sie geweckt zu haben. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie noch schlafen…“
„Keine Sorge, wir waren längst wach…“
„Ach so, gut.“ Elisa stockte. Täuschte Laura sich, oder wurde sie rot? „Nun, zwei junge Menschen wie Sie…. am Wochenende, ja, hm… Wissen Sie, ich wollte nur…“
„Ja?“
„Die Sache ist die, ich wollte einen Kuchen backen, aber ich hatte kein Mehl mehr. Ich wollte Sie fragen, ob… Aber ich wollte Sie nicht stören. Ich frage einfach drüben bei Schmidts nach.“
„In Ordnung.“
Elisa drehte sich um und stolzierte davon.
Laura schloss mit einem Seufzer die Tür. Nachbarn…